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Was ich – durch Mode – in Vietnam gelernt habe

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Erinnert ihr euch? Letztes Jahr im Herbst war ich mit „Abenteuer Vietnam“ im Norden dieses wunderschönen Landes unterwegs.

Noch immer schlummern sehr viele Fotos auf meiner Festplatte, die ich euch so gerne zeigen möchte. Aber kennt ihr dieses Gefühl, dass manche Fotos und damit entstandene Gedanken manchmal erst liegen bleiben müssen, bis sich alles im Kopf sortiert und geordnet hat? Keine Reise hat mich bisher so sehr aufgewühlt wie dieser zweiwöchige Trip.

Als Aufgabe hatten wir, uns ein Thema für eine Reportage zu suchen. Bei mir hatte es natürlich etwas mit Stoffen und Mode zu tun und auch wenn ich am Ende nicht den roten Faden für die Reportage gefunden habe (was mir übrigens unheimlich nahe ging, mein damaliger Perfektionismus stand mir im Wege), habe ich so viele Eindrücke und neue Gedankenansätze gesammelt, was so viel mehr wert ist.

Ich weiß noch, als wir die ersten Tage aus Hanoi raus waren, war es schon ein Insiderwitz bei uns im Bus, dass in jedem Dorf schnell die Frauen raus kommen und sich vor die Hütten setzen um zu sticken, damit ich ein gutes Fotomotiv habe. Die Motive wurden mir förmlich auf einem Silbertablett präsentiert, denn die Reisfelder waren gerade abgeerntet und die Frauen der ethnischen Minderheiten im Norden hatten somit Zeit, unter anderem die traditionellen Trachten zu nähen. An diesen Trachten erkennt man unter anderem woher die Frauen kommen und es dauert Ewigkeiten, bis so eine traditionelle Tracht fertig gestellt wird.

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Zunächst wir Material gesammelt, aus dessen Fasern später der Stoff hergestellt wird. Dieser Stoff wird dann mit natürlichen Stoffen in einem Bottich wochenlang eingeweicht und bekommst so seine blau-schwarze Farbe. In der Zwischenzeit muss das Wasser mit dem Stoff in den Tonnen immer wieder umgerührt werden, daher kommen auch die bunten Hände der Frauen. Irgendwann geht die Farbe kaum mehr ab und die meisten Frauen schämten sich ein wenig, wenn wir Europäer ihre Hände anschauen wollten.
Das oft weiße und rote Muster wird per Hand im Anschluss auf den Stoff drauf gestempelt.

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Im Anschluss wird die Kleidung auf normalen Nähmaschinen genäht. Also auf solchen, die wir hier heutzutage oft auf Flohmärkten finden, teilweise viel Geld dafür bezahlen, weil wir die alten Singer-Maschinen so schön finden. Strom und fließend Wasser findet man hoch oben in den Bergen nicht, daher müssen es manuelle Maschinen sein.

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Das Sticken kostet am meisten Zeit, jede Tracht wird in liebevoller Handarbeit verziert, die Frauen sitzen entweder in Gruppen vor den Häusern zusammen oder sticken in Ruhe alleine vor sich hin.

Einer meiner schönsten Momente war, als mich in einem Dorf eine Frau an die Hand nahm, ich hatte gerade ihren kleinen Sohn fotografiert und ihm ein Polaroid geschenkt, damit er dieses Foto auch für sich haben konnte, und mich schüchtern aber freundlich in ihr Haus führte. So ein Haus besteht in der Regel aus einem großen Raum, es ist sehr dunkel im Inneren, da es ohne Strom und durch die dunklen Holzwände wenig Licht gibt. Das Haus mag für mich leer gewirkt haben, stand in einer Ecke nur ein Bett, wo alle zusammen drin schlafen, in einer anderen Ecke ein Kleiderschrank mit blinden Spiegeln und ansonsten beherbergte das Haus noch eine kleine Feuerstelle und eine handbetriebene Maschine um den Mais für das Tierfutter zu zerkleinern.

Ly, die mit uns auf Tour war und vietnamesisch spricht, hatte der Frau vorher erzählt, dass ich mich für die traditionellen Trachten interessiere und so zog sie mich zum Kleiderschrank, zog ihre zweite Tracht aus dem ansonsten sehr leeren Kleiderschrank, denn die erste trug sie bereits selber, und fing an mich einzukleiden.

Da stand ich nun, tausende Kilometer von Zuhause entfernt, ohne ein Wort von dem zu verstehen, dass die lieb vor sich hinschwatzende Frau vor mir erzählte, abseits der Dorfstraße, zwar mit einem Handy ausgestattet, was dort aber keinen Empfang hatte und der Rest der Gruppe hatte keine Ahnung, wo ich gerade war. Das war für mich einer der schönsten Augenblicke der Reise, dieser persönliche Moment zwischen der vietnamesischen Frau und mir, wie wir beide die traditionelle Tracht trugen, ich ein bisschen schlecht Luft bekommend, da ich gut festgeschnürt in der Tracht war (der Körperbau der Vietnamesen unterscheidet sich doch etwas von meinem). Ein verwackeltes, dunkles Selfie erinnert mich immer noch an diesen Augenblick, auch wenn ich das Foto gar nicht bräuchte, ist der Moment doch tief in meinem Herzen verankert, wie wir dort lachender Weise standen und uns gegenseitig etwas in unserer Sprache erzählten.

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Am Nachmittag, als wir wieder in der kleinen Stadt waren, lief ich alleine über den Markt und unter anderem wurden dort auch Röcke verkauft, die zwar vom Schnitt nicht ganz der traditionellen Tracht entsprachen, aber ansonsten vom Stoff und den Stickereien genau so waren. Auch die Verkäuferin gehörte einer ethnischen Minderheit an und so unterhielt ich mich mit ihr mit Händen und Füßen, denn ich wollte gerne wissen, was dieser Rock kosten sollte, denn mich faszinierte die Herstellung dieser Kleidung und Ly meinte vorher zu uns, dass man dort auf dem Markt guten Gewissens einkaufen kann.

Natürlich dachte ich im Vorfeld, dass ich als Tourist bestimmt ein wenig übers Ohr gezogen werde, immerhin sind auch in diese noch sehr kommunistische Stadt nicht viele Touris gekommen, aber als die Frau mir erklärte, dass dieser Rock umgerechnet ca. 8 Euro kosten soll, war ich doch mehr als nur erstaunt. Natürlich ist vieles in Vietnam günstiger als hier bei uns, aber auch für ein Essen in einer Garküche, muss man 2-4 Euro zahlen, sodass mir dieser Preis wirklich unglaublich niedrig vorkam, immerhin hatte ich bereits seit Tagen gesehen, wie aufwändig es ist, so ein Schmuckstück herzustellen. Aber da stand ich, mit einem Rock vor mir, der für so kleines Geld verkauft werden sollte, und dass obwohl der Preis von der Frau selber gemacht wurde und nicht von einem großen Konzern.

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Ich kaufte den Rock und habe hinterher Ly gefragt, wie es sein kann, dass die Frau mir diesen Rock so günstig verkauft hat, wo ich doch ein Tourist bin und sie den Preis selber bestimmen konnte. Darauf hin meinte Ly, dass zwischen den Reisernten die Frauen einfach viel Zeit hätten. In meinem Kopf war zunächst ein großes Fragezeichen. Neben der Kindererziehung, dem Haushalt, dem Kochen, dem Schleppen von Dingen, dem normalen Alltag, den Trachten, die sie ja auch noch nähen, hatten die Frauen noch Zeit und verkaufen die dann indirekt so günstig? Ly lächelte und meinte, dass man Zeit in Vietnam anders bewertet als bei uns. Man ist eher arm, wenn man keine Zeit mehr hat und ständig der Zeit hinterher rennt. Die Frauen machen das aus Vergnügen, weil sie Zeit haben und verdienen so nebenbei noch ein kleines Taschengeld. Es geht nicht um das Verhältnis Arbeitsstunden – Geld.

Man ist reich, wenn man viel Zeit hat. Eine Aussage, die seitdem oft in meinem Kopf kreist.

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Liebste Grüße,
Ricarda

Besagter Rock, bevor es im letzten Jahr zu einer Ausstellung ging.

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8 Kommentare
  1. Susanne

    19. Juni 2017 um 10:52

    Bin beeindruckt, von dir, deinen Gedanken und deinen Fotos!
    Einen schönen Tag für euch alle da draußen ,
    Susanne

    Antworten

  2. Laura

    19. Juni 2017 um 11:57

    Liebe Ricarda, wow, sehr beeindruckend und wunderschön. Vielen Dank für diesen Einblick!
    Liebe Grüße, Laura

    Antworten

  3. Debby

    19. Juni 2017 um 13:55

    Dein Text macht mich gleich etwas sprachlos und nachdenklich. Ja – Zeit ist echt das wertvollste Gut auf der Welt – und gerade in unserer Gesellschaft geht das doch so schnell vergessen. Danke für deine Worte und auch deine tollen Bilder. Ich finde das immer so wertvoll um mir mal wieder bewusst zu machen in was für einer luxuriösen Welt wir leben und trotzdem immer noch mehr wollen.
    Danke Ricarda!
    Dir wünsche ich einen wunderbaren Nachmittag – mit hoffentlich genug Zeit fürs Wichtige =)
    Lg Debby

    Antworten

  4. Birgit

    19. Juni 2017 um 23:25

    Zeit ist für uns ein Produktionsfaktor, den es immer weiter zu optimieren gilt. Wer Zeit hat, wird komisch angeschaut. Da ist was faul!
    Ich habe vor ein paar Wochen Lochstickereien meiner Ona gesehen. Einige(!) Nachthemden mit üppiger Verzierung. Pekekt von Hand genäht. Vor nicht mal 100 Jahren hatten die Frauen hier auch Zeit dafür.

    Antworten

  5. Petra

    20. Juni 2017 um 0:13

    Liebe Riccarda! Ein sehr bewegender Beitrag. Danke, dass du deine Leser an diesen Erfahrungen teilhaben lässt. Mir wird bewusst, wie wertvoll Zeit ist und wie sehr ich sie oft verschwende. GLG und noch eine schöne Woche, Petra

    Antworten

  6. Ulla

    20. Juni 2017 um 9:42

    Man ist reich, wenn man viel Zeit hat – da steckt viel Wahrheit drin. Ein toller Post.
    Herzlichst Ulla

    Antworten

  7. Silvia

    20. Juni 2017 um 11:17

    Wow! Lieben Dank für deinen tollen Einblick deiner Reise. Ganz individuell und eigen wie du Vietnam für dich interpretierst. Undneknentollen Rock hast du dort gekauft, der dir diese tolle Erinnerung bringt. Danke!

    Antworten

  8. Petra

    26. Juni 2017 um 21:43

    Liebe Ricarda,
    Wahnsinnsbilder und sehr schön geschriebener Post, die Aussage hat was, man ist reich wenn man Zeit hat. Gefällt mir sehr gut diese Einstellung. Danke fürs Teilhaben, der Rock ist toll.
    Liebe Grüße,
    Petra

    Antworten

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